Sinne: Qualitativ und quantitativ

Sinne: Qualitativ und quantitativ
Sinne: Qualitativ und quantitativ
 
Aristoteles zählte fünf Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Er benannte sie nach den subjektiven Wahrnehmungsarten und ordnete sie den damals bekannten Sinnesorganen Augen, Ohren, Nase, Zunge und Haut zu. Dieses Prinzip hat sich bewährt. Hermann von Helmholtz führte die dazu passende Terminologie ein: Alle Wahrnehmungen, die durch ein Sinnesorgan vermittelt werden, bilden eine Modalität wie Sehen, Hören oder Riechen. Jede Modalität lässt sich weiter unterteilen in Qualitäten wie rot und grün oder süß, sauer und salzig.
 
Empfindungsspezifität, Reizspezifität und Wirkungsspezifität
 
Heute sind viel mehr Modalitäten bekannt als zur Zeit von Aristoteles. So spricht man inzwischen von den Hautsinnen in der Mehrzahl, nachdem es gelang, die einzelnen Empfindungsmodalitäten wie Wärme, Berührung oder Schmerz, jeweils bestimmten Sinneszellarten zuzuordnen. Diese zusätzlichen Modalitäten passen im Prinzip in das alte Schema, wenn man neben den Sinnesorganen auch Sinneszellen gelten lässt. Das Einteilungsprinzip nach Modalitäten und den zugehörigen Sinneszellen drückt die Auffassung aus, dass die verschiedenen Sinneszellen zusammen mit den nachgeschalteten Nervenzellen direkt die mannigfaltigen Wahrnehmungserlebnisse liefern. Die Bereiche des Psychischen und Physischen berühren sich in der Empfindungsspezifität der Sinnesbahnen. Das Einteilungsprinzip kann allerdings nicht auf die vielen Sinneszellen angewendet werden, von denen wir normalerweise gar nichts merken. Sie kommen in allen Körperteilen vor und melden den Blutdruck, die Muskelspannung oder chemische Reize aus den Eingeweiden an das Gehirn, ohne dass uns das unmittelbar bewusst würde. Diese Sinneszellen werden nicht durch Modalitäten von Sinneserlebnissen gekennzeichnet, sondern nur durch die Reize, auf die sie reagieren.
 
Zu unterscheiden ist die Reizspezifität von der Wirkungsspezifität. Die Reizspezifität kommt erstens durch die Ausstattung der Sinneszellen mit molekularen Rezeptorstrukturen zustande und zweitens durch ihre Lage im Körper. So ist die Lichtstrahlung wegen der photochemischen Eigenschaften des Rhodopsins und der gegen andere Reize abgeschirmten Lage im Auge der adäquate Reiz der Sehzellen. Ein Schlag mit der Faust aufs Auge ist dagegen ein inadäquater Reiz. Er löst auch Lichtempfindungen aus, aber nicht auf dem von der Natur vorgesehenen Weg. Die adäquaten Reize können bei allen Sinneszellen erforscht werden, um die Reizspezifität zu bestimmen. Inadäquate Reize zeigen, dass Sinnesorgane und die nachgeschalteten Nervenbahnen empfindungsspezifisch reagieren. Die Augen zum Beispiel melden Licht, auch wenn sie inadäquat durch einen Faustschlag oder durch elektrischen Strom gereizt werden. Die Wirkungsspezifität ist somit etwas ganz anderes als die Reizspezifität.
 
Nach dem heutigen Wissensstand sind die Modalitäten und Qualitäten in der Spezifität der Sinnesbahnen und nicht in verschiedenen Erregungssignalen verschlüsselt. Es kommt darauf an, welche Nervenfaser erregt ist und wohin die Erregung im Gehirn geleitet wird. Das gilt auch für Sinnes- und Nervenzellen, die keine bewussten Empfindungen hervorrufen. Entscheidend für die Wirkungsspezifitäten sind die Verbindungen der Zellen im Gehirn. Falsche Verbindungen im Gehirn könnten die Ursache für Phantomschmerzen und für krankhafte Halluzinationen des Hörsinnes sein.
 
Empfindungsintensität: Gesetze und Probleme
 
Wein kann mehr oder weniger sauer schmecken, Schmerz schlimm oder harmlos sein. Nur wer die Geschmacks- oder Schmerzempfindung an sich selbst erfährt, kann die Intensität beurteilen. Empfindungsintensitäten sind somit subjektive Erlebnisse. Sie sind aber so wichtig, dass man gerne objektive Angaben über sie hätte. Man wüsste beispielsweise gerne, wie laut der Lärm auf der Straße wirklich ist, oder ob der Schmerz nach Einnahme eines schmerzlindernden Mittels tatsächlich abnimmt oder nicht. Objektive Maßstäbe für Empfindungsintensitäten gibt es aber nicht. Nur die Angaben der Betroffenen stehen zur Verfügung. Obwohl es grundsätzlich schwierig ist, aus subjektiv erlebten Intensitäten etwas Allgemeingültiges herzuleiten, muss man das oft tun. Ein berühmtes Beispiel stammt aus der Astronomie.
 
Bereits die Astronomen der Antike teilten Sterne nach ihrer Helligkeit in sechs Größenklassen ein, wobei die Größenklasse 1 die hellste und die Größenklasse 6 die schwächste war. Die Sterne sollten selbstverständlich nach objektiven Eigenschaften eingeteilt werden. Es gab aber damals nur die sechs Größenklassen, das heißt eine Skala von subjektiven Empfindungsintensitäten. Als es in der Neuzeit gelang, die von den Sternen ausgehende Strahlungsintensität zu messen, entdeckten die Wissenschaftler eine wichtige Gesetzmäßigkeit: Die wahrgenommene Helligkeit ist dem Logarithmus der Reizgröße proportional. Das bedeutet, dass die subjektive Empfindungsintensität mit wachsendem Reiz immer weniger zunimmt und deshalb nicht beliebig groß wird. Die logarithmische psychophysische Beziehung ist unter dem Namen fechnersches Gesetz bekannt. Es bewährte sich, wenn man nicht zu genau hinschaute, ganz gut. Fechner begründete die logarithmische Beziehung aber nicht mit der Empfindung der Sternenhelligkeit, sondern leitete sie von einer grundlegenden Erkenntnis der Wahrnehmungsforschung her, die nach dem Physiologen Ernst Heinrich Weber den Namen webersches Gesetz trägt.
 
 Helligkeit und Strahlungsintensität von Sternen
 
Das webersche Gesetz kann man sich an alltäglichen Erfahrungen veranschaulichen. Es erklärt zum Beispiel, warum die Sterne am hellen Tag nicht zu sehen sind. Das liegt nicht an den Sternen, sondern an der Arbeitsweise unserer Augen. Sie sind darauf spezialisiert, Unterschiede zu registrieren. Die Strahlung der Sterne ist erheblich stärker als die des Nachthimmels; vom hellen Tageshimmel heben sie sich dagegen nicht genügend ab. Für das Auge ist das Verhältnis zwischen der Strahlung der Sterne und dem Hintergrund entscheidend. Der Unterschied ist nur bei Nacht groß genug, um die Sterne wahrzunehmen.
 
Dieser gedruckte Text ist dagegen bei Mond- und Sonnenlicht lesbar, obwohl von der Sonne ungefähr 100 000-mal mehr Licht kommt als vom Mond. Das helle Papier reflektiert ungefähr zehnmal so viel von dem einfallenen Licht wie die dunklen Buchstaben. Das Verhältnis ist bei beiden Beleuchtungen jedoch gleich, weil die reflektierte Strahlung des Papiers und das Verhältnis zwischen der reflektierten Strahlung der Buchstaben und des Papiers mit der Beleuchtung um den gleichen Faktor größer oder kleiner werden. Wir merken nicht, dass die schwarzen Buchstaben bei Tag viel mehr Licht abstrahlen als das helle Papier bei Nacht, weil wir im Auge das Größenverhältnis registrieren.
 
Das webersche Gesetz beschreibt diese Erfahrung für einen Spezialfall, die Reizschwelle. Das Gesetz ist leicht zu überprüfen. Wenn man Schachteln mit unterschiedlich viel Sand füllt und mit den Händen wiegt, findet man im Idealfall etwa folgende, gerade noch wahrnehmbare Gewichtsunterschiede: 12 Gramm werden von 10 Gramm unterschieden, ebenso 120 von 100 Gramm, 1,2 von 1 kg usw. Der wahrnehmbare Unterschied beträgt in diesem Beispiel immer 20 Prozent. Das Verhältnis zwischen der Reizschwelle und dem Hintergrundreiz hat deshalb immer denselben Wert. So ist es im Prinzip bei allen Sinnen, wenn auch dieses Verhältnis je nach Sinnesart und Versuchsmethode größer oder kleiner sein kann. Das webersche Gesetz gilt allerdings nicht bei sehr großen oder kleinen Reizen. Auch lehrt uns die Erfahrung: Sowohl bei schwacher Beleuchtung als auch bei hellem Sonnenlicht sind feine Helligkeitsunterschiede nicht gut zu erkennen. Das Verhältnis muss in diesen extremen Bereichen größer sein, das heißt man braucht größere Reizunterschiede, um etwas wahrzunehmen. Wir sorgen im ersten Fall für bessere Beleuchtung und setzen beim anderen Extrem eine Sonnenbrille auf, um mit der Größe der Lichtreize wieder in den Gültigkeitsbereich des weberschen Gesetzes zu kommen.
 
Das fechnersche Gesetz ist eine Verallgemeinerung des weberschen. Bei sehr großen oder kleinen Reizen, bei denen schon das webersche Gesetz nicht richtig ist, kann allerdings das fechnersche Gesetz auch nicht stimmen. Trotz seiner guten Begründung war das fechnersche Gesetz immer umstritten. Wie aber soll man ein besseres Gesetz entwickeln, wenn die eine Variable eine Empfindung ist und darum eine rein subjektive und nicht messbare Größe? Der amerikanische Psychologe Stanley S. Stevens entwickelt dafür die eigenmetrische Methode. Sein Verfahren führte zur stevensschen Potenzfunktion.
 
Die eigenmetrische Methode beruht darauf, dass die Versuchspersonen die jeweilige Empfindungsgrößen schätzen. Sie geben zu Protokoll, wie viel größer ihnen eine Empfindung im Vergleich zu einer anderen erscheint. Typische Ergebnisse solcher Untersuchungen folgen einer Potenzfunktion. Die Kurven können ähnlich wie bei einer logarithmischen Funktion gekrümmt sein. Bei Lichtreizen sind sie nach unten, bei elektrischen Reizen allerdings nach oben gekrümmt.
 
Das wichtigste Ergebnis des eigenmetrischen Verfahrens lautet: Veränderungen der Reizgröße um einen bestimmten Faktor führen in weiten Bereichen zu Änderungen der subjektiven Empfindungsintensität um denselben Faktor. Es gibt aber auch Befunde, die von der Potenzfunktion abweichen. Das sieht man bei der eigenmetrisch bestimmten Lautheit und Tonhöhe.
 
Es besteht offensichtlich ein Bedürfnis nach objektiven und allgemein verbindlichen Angaben über Empfindungsintensitäten. Trotzdem ist leider abschließend festzustellen: Die Wahrnehmungen sind in der Regel so kompliziert, dass es keine einfachen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten geben kann. Nur unter Laborbedingungen sind die subjektiven Wahrnehmungsintensitäten einigermaßen zuverlässig messbar.
 
Prof. Dr. Christoph von Campenhausen
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Wahrnehmungen sind Konstanzleistungen
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
neurobiologische Grundbegriffe
 
 
Dusenbery, David B.: Sensory ecology. How organisms acquire and respond to information. New York 1992.
 Eckert, Roger: Tierphysiologie. Aus dem Englischen. Stuttgart u. a. 21993.
 Fechner, Gustav Theodor: Elemente der Psychophysik. 2 Bände. Leipzig 1860. Nachdruck Amsterdam 1964.
 
Neuro- und Sinnesphysiologie, herausgegeben von Robert F. Schmidt. Berlin u. a. 31998.
 
Neurowissenschaft. Vom Molekül zur Kognition, herausgegeben von Josef Dudel u. a. Berlin u. a. 1996.
 
Neurowissenschaften, herausgegeben von Eric R. Kandel u. a. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1996.
 Shepherd, Gordon M.: Neurobiologie. Aus dem Englischen. Berlin u. a. 1993.

Universal-Lexikon. 2012.

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